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Im Himmel der Menschen

Im Himmel der Menschen

Im Himmel der Menschen

Doris Franz ist die Initiatorin des Lyrikweges zwischen Egg und Andelsbuch. Durch einen Wald, Erbstück von ihren Eltern, führt nun ein Wanderpfad, den sie nach ihrer Mutter benannt hat: Maria Erika Lyrikweg. Sein Fundament bildet die Dauerausstellung mit Werken von Dichterinnen und Dichtern. „Ihre Verse haben kein Ablaufdatum“, sagt Doris Franz. „Sie überdauern ruhige wie stürmische Zeiten“.

Der Lyrikweg beginnt so unscheinbar wie das Schreiben selbst. Hinter dem Tennisplatz in Egg ist der Einstieg. Da geht der Pfad eine kleine Böschung hinab und führt dann entlang der Ache durch Gebüsch und Stein. Ein kleiner Abstieg genügt, um in eine andere Welt einzutauchen. Es ist noch kühl an diesem Morgen, nur einzelne Sonnenstrahlen brechen durch den Blätter- und Nadelwald, im Hintergrund die tosende Bregenzerache, begleitet von munterem Vogelgezwitscher. Da, am Wegesrand, ein oval runder Stein. Auf ihm eine Tontafel, die sich an den Stein schmiegt. So begegne ich Friedrich Hölderlin: „Eines zu sein mit Allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen.“

Ich halte inne vor den Worten, die vor über 220 Jahren im Briefroman „Hyperion“ niedergeschrieben worden sind. Ich habe mich nie viel mit Hölderlin beschäftigt, aber jetzt ist er hier im Bregenzerwald, direkt am Ufer der Ache. Wie seltsam, denke ich, das Leben gleicht diesem Fluss, ein ständiges Kommen und Weiterziehen, nie hält er still. Aber es gibt Gedanken, die kommen und setzen sich fest, wie ein wuchtiger Stein, der sich den Kräften des Wassers widersetzt. Sie tauchen plötzlich auf, werden erspäht und niedergeschrieben – von Menschen wie Hölderlin. Der Fotograf holt mich aus meinen Gedanken. „Komm, lass uns die Geschichte machen!“ Doris Franz ist auch schon da, wir geben uns zur Begrüßung die Hand. Sie ist die Initiatorin des Lyrikweges. Vor ein paar Jahren hat sie das Waldstück von ihrenEltern geerbt. Durch dieses führt ein Wanderpfad, der die Gemeinden Egg und Andelsbuch verbindet. Den Weg hat Doris nach ihrer Mutter benannt – Maria Erika Lyrikweg.

Das Fundament bildet die Dauerausstellung mit Werken großer Dichterinnen und Dichter. „Ihre Verse sind zeitlos“, erklärt Doris. „Sie haben kein Ablaufdatum, überdauern ruhige wie stürmische Zeiten.“ Darum hatte sie zuerst die Absicht, diese in Stein zu meißeln. Aber das wäre teuer geworden. Der bildende Künstler Udo Rabensteiner beriet sie, so entstand die Idee der Tontafeln. Noch bevor diese gebrannt wurden, waren sie einen Tag auf den Steinen gelegen und hatten deren Formen angenommen, als wären sie selbst von Bäumen abgefallene Blätter. Durch das Brennen wölbten sie sich dann teilweise. „Man muss sich das wie Eselsohren vorstellen“, sagt Doris mit einem Lächeln im Gesicht. Die Steine selbst sind der Bregenzerache entnommen und entlang des Wanderpfades aufgestellt worden. Doris beschäftigt sich seit einigen Jahren sehr intensiv mit Poesie und Sprache.

Sie las Texte und Gedichte, aber irgendwann kamen Fragen auf: Wie arbeiten eigentlich Dichterinnen und Dichter? Wie funktionieren das Handwerk und die Technik des Schreibens? Wie sind Gedichte aufgebaut, gibt es da Regeln und klare Muster? Dafür begann sie, Schreibwerkstätten zu besuchen, schloss sich einer Literaturgruppe an und ging mit auf Exkursionen, um vor Ort die Lebenswelten von Schreibenden zu erkunden. Doris erzählt ihre Geschichte, als wäre sie auf einer langen Wanderung gewesen. Ein Schritt folgte dem anderen, dabei wechseln Landschaften, Aussichten, Eindrücke – alles einzigartige, inspirative Quellen. Aber lediglich für die Gestaltung eines Lyrikweges? Da muss doch mehr sein, denke ich mir, schreibst du denn nicht selber, Doris? Sie schaut mich an, als hätte ich eine intime Stelle ihres Innenlebens berührt. „Ja, ich schreibe selber, aber alle meine Arbeiten sind momentan in einer Schublade gut aufbewahrt“, sagt sie etwas verlegen.

Das ist also ihr Geheimnis: „Ich nehme immer wieder eine der Arbeiten raus und feile daran. Wie eine Handwerkerin. Irgendwann möchte ich meine Schätze schon vorzeigen.“ Sie lächelt dabei: „Ich bin halt nicht immer gleich zufrieden.“ Wir gehen den Pfad ein Stück weiter und kommen zum Herz des Waldstückes, zu einem Rondell, einer freien Fläche mitten im dichten Geäst. Hier stand einst ein Schuppen. Aber ein Hochwasser der Ache hatte ihm arg zugesetzt, er wurde deshalb abgerissen. Nun ist hier Platz. Es stehen zwei Holzbänke da, die zum Verweilen und Ausruhen einladen. Hier ist der Wald recht dunkel, aber da und dort bricht ein Lichtstrahl wie ein kleiner Funke durch, die Nadeln und Blätter werfen am Erdboden fein ziselierte Schatten.

Dieses Wechselspiel von Hell und Dunkel fasziniert den Fotografen. Er fragt uns, ob jemand ein Buch dabei habe. Doris ist gleich zur Stelle, greift in den Rucksack und holt „Franz Michael Felder für die Westentasche“ hervor. Sie schlägt eine beliebige Seite auf und liest: „Wahr will ich schreiben, und die Wahrheit ist wie die Tugend, im einfachen Kleid am schönsten.“ Nicht von ungefähr hat Doris einen „Felder“ dabei. Dem Schoppernauer Bauer und Dichter ist die Wechselausstellung 2024 gewidmet. Diese folgt einem anderen Konzept. Die literarischen Werke werden hier auf Filzstoffe gedruckt und entlang des Pfades an Äste sowie Zweige gehängt. Die Ausstellung dauert ein Jahr, immer im Frühjahr werden die alten Stoffe abgehängt und durch neue ersetzt. Hier ist nichts in Stein gemeißelt, die Gedichte sind wendiger, experimenteller, oft von zeitgenössischer Natur. Felder ist zwar weniger ein Zeitgenosse, dafür der literarische Lokalmatador im Tal. Er schuf in seinem kurzen Leben (er sollte keine dreißig Jahre alt werden) ein reichhaltiges literarisches Oeuvre. Er schrieb Romane, Dorfgeschichten, Reiseberichte, Essays, Pamphlete und Gedichte. Felder war im Dorf ein Außenseiter. Die Volksmeinung war streng: Für was sollte das Lesen und erst recht das Schreiben gut sein, hier in diesem Tal, wo es vor allem kräftige und fleißige Hände braucht? „Für mich ist Felder ein Phänomen“, sagt Doris. „Er besaß einzigartige Fähigkeiten, war aber mit diesen in seiner Umgebung allein, ein Außenseiter. Und trotzdem hat er immer das Gemeinsame gesucht.“

Aus diesem Gegensatz habe Felder seine Sprache geschöpft, meint sie, eine farbenreiche, einfühlsame, aber auch eine kräftige, fordernde Sprache. Doris blättert im „Felder“ und liest: „Wo mir das Vertrauen fehlt, fehlt mir alles.“ Sie blickt mich an: „Verstehst du, was ich meine?“ Bei Hilde Domin steigt der Pfad an. Die Tontafel ist hier zerborsten, kleine Stücke sind weggebrochen. War es ein Stein? Er hätte kein passenderes Gedicht treffen können. Hat er womöglich zuvor Domins „Bitte“ gelesen? Da heißt es: „Der Wunsch verschont zu bleiben – taugt nicht.“ Nun schlängelt sich der Weg nach oben, wir steigen eine mit Holzbrettern befestigte Stiege hoch, treffen auf Rainer Maria Rilke, Rosa Ausländer, Hermann Hesse und andere.

Was war aber zuerst, Doris? Hast du die Gedichte schon gehabt und sie dann platziert, oder war es umgekehrt, hat dich die Natur bei der Auswahl inspiriert? „Wohl beides“, antwortet sie. „Ich habe mich zuerst schon mehr mit Gedichten beschäftigt. Wenn mir eines gefallen hat und ich dachte, das könnte passen, habe ich mich an unterschiedliche Stellen des Waldes gestellt und es laut gelesen. Bis ich das Gefühl hatte, das ist der richtige Platz oder eben nicht.“ Hast du einen Liebling, den du nicht mehr hergeben würdest? „Ja klar, den Hölderlin.“ Wir gelangen ans Ende. Der Pfad führt aus dem Wald heraus. Plötzlich helles Licht, vor uns eine weite Landschaft, begrenzt durch den Andelsbucher Hausberg im Hintergrund, die Niedere. Doris holt aus dem Rucksack eine Thermoskanne, schenkt heißen Kaffee aus. Während ich an meinem Becher nippe, sehe ich vorne noch einen Stein. Wieder Hölderlin: Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden. Und ich lese weiter: „Das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe.“ Tatsächlich, Doris hat recht, auf Hölderlin kann man nicht verzichten. Man könnte gar meinen, er wäre zu Lebzeiten hier gewesen und hätte eigens für diese Landschaft diese Zeilen erspäht.

Autor: Georg Sutterlüty
Ausgabe: Reisemagazin Bregenzerwald – Sommer 2024