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Natters Wanderungen

Natters Wanderungen

Der Philosoph und Schriftsteller Peter Natter begibt sich auf ungewöhnliche Wanderungen durch den Bregenzerwald. Hier beschreibt er seine Erlebnisse auf dem Weg zu einer winterlichen Vorsäßhütte.

„Wo der Weg aufhört, kommen einem Sperre und Zaun, wo sie auf wildem Fell nie scheuern konnten, kommen einem Kandare und Zügel nicht in den Sinn: Das Gefühl der wahren Freiheit ist für mich von jenem des Unbestimmten nie ganz zu trennen.“ Geschrieben hat diesen Satz Julien Gracq, einer der stillsten Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts. Übersetzt hat ihn ein ebenso stiller und feiner Mensch. „Es ist das unmittelbare Gefühl, dass hier der Zauber aller Zauber noch in seiner ganzen Kraft regiert – die Umkehrbarkeit der Zeit“, heißt es im selben Text über ein kleines Nebenflüsschen der großen Loire. Solchen Zauber suche ich hier herinnen im tiefen Wald, auf dem Weg in die winterlich verlassene Vorsäßsiedlung. Nicht, wie klein die Welt ist, sondern exakt das Gegenteil, ihre famose Größe selbst im Kleinen offenbart mir die Postbusfahrt von Dornbirn in den hinteren Bregenzerwald. Dorthin, wo sich das Tal ein letztes Mal öffnet, den Blick aber bereits magisch hineinzieht in die enger und enger aufeinander zurückenden schroffen Hänge beiderseits der Bregenzerach. Wieder hat es zwei Tage lang geregnet im Rheintal, das vom Winter heuer so gar nichts wissen will. Drinnen aber, im Wald, hat es geschneit, lautet die telefonische Auskunft, schön geschneit, ein richtiger Winter wird mir versprochen.

 

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Tatsächlich gerate ich, da der Bus Bezau hinter sich gelassen hat, zusehends tiefer hinein in den Zauber einer verschneiten Landschaft. Der graue, kalte Winterhimmel tut das seine, um die letzten aus der Stadt mitgebrachten Gedanken zu verwischen. Bevor sich die Straße endgültig in die Höhe schraubt, dem Hochtannbergpass zu, steige ich aus. Noch bleibt Zeit bis zum Mittag. Die vor mir liegende Wanderung sollte trotz Schnee in sechs, sieben Stunden gut zu bewältigen sein. In der Tasche trage ich den Schlüssel zur Vorsäßhütte eines Freundes. Dort werde ich ein abgelegenes, aber ein gemütliches, ein uriges Nachtquartier vorfinden. Wo die geheimen Schnapsvorräte vom ganz Guten gelagert sind, habe ich auch in Erfahrung gebracht: Für eine kleine Belohnung nach der anstrengenden Wanderung, als Einstimmung auf eine lange Nacht, als Abschluss meines rustikalen Abendessens. Doch noch ist es nicht so weit. Zuerst steige ich eine gute Stunde unter dem niedrigen Himmel einer Fahrstraße folgend aufwärts. Mich langsam hinausbewegend aus dem Kreis der Menschen, lasse ich nach und nach die Häuser hinter mir. Je höher ich hinauf komme, desto kleiner und älter werden sie; desto weiter geht der Blick über das nach Nordosten zu sich öffnende, nach Südwesten hin sich verschließende Tal. Da unten irgendwo hat mein Großvater sein Schulmeisterleben gelebt. Es tut gut, noch eine Zeitlang die Menschen zu sehen, zu hören, auch wenn sie immer kleiner werden, bis schließlich alles wie Spielzeug anmutet; bis die Autos unhörbar und die Verursacher der letzten heraufdringenden Geräusche unsichtbar geworden sind; bis ich allein bin mit mir.

 

Das ist es, was ich gewollt habe. Dennoch ist es gut, die Menschen dort unten zu wissen und ein tiefes Vertrauen in ihr Dasein und ihre Geschichte zu verspüren. Dann bin ich im Wald. Kein Weg ist erkennbar, nur an den hohen, verschneiten Tannen die Wandermarkierungen. Die einzuschlagende Richtung ist umso klarer. Rechter Hand begleitet mich ein riesiges Felsmassiv, das dient mir zur Orientierung. Einem Bächlein ist zu folgen, bis es verschwindet. Ich nähere mich bald dem Scheitelpunkt meiner Wanderung. Ganz still ist es geworden. Kein Blick geht mehr zurück. Wohin auch? Verlassene Alphütten ducken sich unter einer meterhohen Schneelast. Zu einer von ihnen stapfe ich, finde ein halbwegs geschütztes Plätzchen und mache eine späte Mittagsrast. Nach Westen zu wird es ein wenig heller, wenigstens eine Spur von Sonne zeichnet sich ab. Die Stille nimmt zu. Mit ihr kehrt Ruhe ein in mein Denken. Mit der inneren Ruhe wiederum verstärkt sich die Präsenz des Unmittelbaren. Ich rieche den Schnee, das Eis der mächtigen Eiszapfen an den Felswänden hinter der Hütte. Gestärkt, aber noch mehr: beruhigt gehe ich weiter. Wieder begleitet mich ein kleiner Wasserlauf, der sich in seinem schmalen Bett den Weg durch Schnee und Eis gräbt, nach Norden zu fließend. Es hellt so weit auf, dass ich weit in der Ferne schemenhaft mein morgiges Ziel erkenne. Jetzt macht der Bregenzerwald seinem Namen alle Ehre. Seit fast zwei Stunden arbeite ich mich von Markierung zu Markierung durch das Dickicht; keine Menschenseele weit und breit, vom Wild nur die Spuren, knackende Äste, manchmal fällt Schnee von einer Tanne. Jedes Mal erschrecke ich von neuem. Dann stoße ich auf einen etwas größeren Bach. Er wird mich ans Ziel geleiten. Eine Vorsäßsiedlung, gottverlassen um diese Jahreszeit; bei diesem Wetter bleiben auch die Skitourengeher aus. Mir ist es recht.

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Mein Quartier ist rasch gefunden, obwohl jetzt alles ganz anders ausschaut als bei meinem Besuch im Spätherbst. Merklich nimmt das Tageslicht ab. Übrigens trage ich heute, ganz gegen meine Gewohnheit, eine Uhr am Handgelenk. Hier, in der Einsamkeit, mag ich mir diesen Luxus leisten. Zu Hause, wo sowieso alles eingeteilt und das meiste geregelt ist, tue ich es nicht. Es geht einzig darum, zu wissen, wie spät es ist; nicht darum, für irgendetwas gerüstet zu sein. Das Haus, ein uraltes Wälderhaus, seit etlichen Jahren als Rückzugsort eingerichtet, nimmt mich trotz Eiseskälte gastlich auf. Bald brennt ein Feuer im Küchenherd, eines im Kachelofen. Ein Willkommensschnaps gilt mir selbst. Die Fensterläden der Stubenfenster mache ich auf. Ich will den Wind in den Tannen rauschen hören. Später, es ist warm geworden in der Küche, das Abendbrot steht bereit, die Nacht ist angebrochen, gehe ich nochmals ins Freie. Die vier beleuchteten Fenster werfen ein mildes Licht in den Schnee, am Himmel blitzen vereinzelt Sterne. Nur wenn ich ganz reglos stehe, ist das Murmeln des Baches zu vernehmen. Natürlich weiß ich, wo ich bin, weiß ich, dass keine zehn Kilometer Luftlinie entfernt das nächste Dorf ist mit seinen Menschen. Wie leicht es plötzlich ist, neben dem knisternden Herdfeuer, so konzentriert wie entspannt jeden Bissen Käse, jedes Stück Brot, jede Scheibe Speck, jeden Schluck Tee zu genießen, und zugleich wirklich tief einzutauchen in die Geschichte dieses mehrhundertjährigen Hauses, in dem der Geist der Region atmet und ihre Seele west. Ganz von selbst fange ich an zu reden. Aber nicht mit dem Haus rede ich, nicht so sehr mit dem Geist meiner Ahnen. Es sind lebende Menschen und aktuelle Themen, die jetzt und hier eine wunderbar dichte Präsenz erlangen. In einer eiskalten Kammer verkrieche ich mich in den Schlafsack. Im Einschlafen kann ich das Herz der Region schlagen hören. Oder ist es mein eigenes? Es ist einerlei.

Früh am Morgen gibt’s nach tiefem Schlaf heißen, starken Kaffee, dunkles Brot, Käse, Speck. Das prickelnd kalte Wasser aus dem Brunnen sorgt für Munterkeit, das Feuer im Herd wärmt mich, bringt das Wasser zum Kochen und den Speck zum Brutzeln. Sobald es draußen hell wird, hält es mich nicht mehr im Haus. Dennoch: Es behält etwas von mir zurück. Gleichwohl oder gerade deshalb schickt es mich bereichert und gestärkt auf den Weg. Ein wolkenloser Morgen ist angebrochen. Nach zwei Stunden leichtfüßiger Wanderung auf einem gespurten Winterwanderweg kommt auch die Sonne über den Hohen Ifen und kitzelt mich im Nacken. Die Schneefelder glitzern und funkeln. Ein spitzer roter Kirchturm blitzt bald zwischen den Tannen hervor. Ein Campingplatz im Winterschlaf ist Vorbote der ersten Häuser des kleinen, in den Talkessel geduckten Dorfes. Für mich aber ist das soeben erklingende Mittagsgeläut der Pfarrkirche wie ein Willkommensgruß. Ein letztes Tobel ist zu durchqueren, die Subersach grummelt in ihrem vereisten Bachbett. Dann komme ich gerade recht für ein schönes warmes Mittagessen im Dorfgasthaus. Es war kein wirklich langer Ausflug diesmal, dafür ein beredter und ein vielversprechender. Der Seele des Bregenzerwaldes wollte ich begegnen, abseits der Menschen. Gefunden habe ich sie in mir selbst.

Autor: Peter Natter
Ausgabe: Reisemagazin Winter 2014-15